Charles Lewinsky: Sein Sohn

  Unstillbare Sehnsucht

Charles Lewinsky sucht sich nach eigenem Bekunden für seine Romane Stoffe, nicht Epochen. Deswegen ist Sein Sohn mehr noch zeitlose Geschichte vor bunt koloriertem historischem Hintergrund als historischer Roman. Über das real existierende Vorbild für den Protagonisten ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 geboren, in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde, wo sich seine Spur verliert, und wer seine Eltern waren. Damit hatte Charles Lewinsky alle Freiheit, Louis Chabos, wie er ihn nennt, ein ganzes Leben zu schenken mit zahlreichen Ortswechseln, vielen Schicksalsschlägen, aber auch unverhofften Höhen und vor allem mit einer übermächtigen Sehnsucht nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit.

Dramatischer Beginn
Louis Chabos‘ Start ins Leben hätte kaum schwieriger verlaufen können: Zuerst überlebt er nur knapp eine Fußgeburt, dann brennt die Amme durch. Nur der Platz im Waisenhaus ist ihm wegen des für 18 Jahre im Voraus bezahlten Kostgelds garantiert. Von den anderen Kindern geschlagen und gemobbt, lauscht der kleine, zierliche Junge ungläubig dem Märchen vom Waisenknaben, der sich als Königskind entpuppt und – wichtiges Detail – von seinem Vater per Herold gesucht wird.

Nach zwölfjährigem Martyrium wendet sich Louis Chabos‘ Schicksal, als ihn ein verarmter Marchese aufnimmt und ihm beibringt, was er zum Überleben braucht: Manieren, Wehrhaftigkeit, Selbstbewusstsein und den Umgang mit der Angst.

Auf und Ab
Es folgen Jahre als jugendlicher Landstreicher unter anderen Außenseitern und als 15-jähriger Soldat im Elend von Napoleons Russland-Feldzug, die Rückkehr als Versehrter, Hoffnungslosigkeit, aber immer wieder eine helfende Hand und vor allem ein neues Ziel: die Herkunft klären, die Eltern finden. Was ihm zunächst das Leben rettet, wird zur fixen Idee, die Louis Chabos tragischerweise auch nicht aufgeben kann, als er in Ziziers im Kanton Graubünden sein Glück findet. 1830 folgt er einer Spur nach Paris, in die Stadt der Revolution, der Cholera und des neuen Bürgerkönigs Louis-Philippe:

Wenn man auf einem Zusammensetzspiel plötzlich ein Bild erkennt, müssen die Teile in der richtigen Ordnung liegen. (S. 268)

© B. Busch

Spannend und unterhaltsam erzählt
Charles Lewinsky schildert den historischen Hintergrund und das Schicksal eines Mannes auf der Suche nach seinen Wurzeln so fesselnd, lebendig und absolut rund, dass man sich bei der Lektüre mittendrin im Waisenhaus, im Gefängnis, im Krieg, im Hinterzimmer eines Apothekers, in der Psychiatrie oder bei den Pariser Lumpensammlern fühlt. Ich habe mitgefiebert, obwohl das Einstiegskapitel nichts Gutes verheißt, hätte Louis Chabos gern zugerufen, sein Glück nicht für eine Idee aufs Spiel zu setzen, aber nichts und niemand ihn hätte abhalten können.

Sein Sohn ist ein spannender, routiniert erzählter, tragischer und doch oft komischer Roman mit hohem Unterhaltungswert. Die 106 kurzen Kapitel entfalten einen Sog und fliegen geradezu vorbei, die Handlung schreitet temporeich in großen Schritten vorwärts, Geschichte reiht sich an Geschichte und die bis zum Äußersten verknappten Sätze in moderner Sprache sind leicht lesbar. Auch wenn der Roman für mich nicht an Charles Lewinskys herausragendes Buch Melnitz heranreicht und nicht ganz die Originalität von Der Halbbart aufweist, kann ich ihn doch als vergnügliche, garantiert nie langweilige Lektüre für eine breite Leserschaft sehr empfehlen.

Charles Lewinsky: Sein Sohn. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert